Presseclub 16. Dezember 1999

In den letzten Monaten und Wochen hat uns in der Kirche und in der Öffentlichkeit eine tiefgreifende Auseinandersetzung um den geeigneten Weg zum Schutz des Lebensrechtes ungeborener Kinder und der Solidarität mit ihren Müttern bewegt. Es wurde um eine klare Haltung der Kirche in dieser Frage gestritten und gerungen.

Die Auseinandersetzung dreht sich nur um die Frage, auf welche Weise das Leben der ungeborenen Kinder am besten geschützt werden kann. Im Ziel sind sich alle einig. Es gereicht der Kirche gewiss zur Ehre, dass sie sich wie niemand sonst in der Gesellschaft für das Lebensrecht der Ungeborenen und damit auch für die unantastbare Würde des Menschen überhaupt einsetzt.

Wir bemühen uns zur Zeit, mit Hilfe einer von mir in Absprache mit den anderen bayerischen Diözesen eingesetzten Kommission, einen geeigneten und gemeinsamen Weg zu finden, der dem Grundanliegen gerecht wird, die Einheit der Kirche wahrt und das klare Zeugnis der Kirche für das Leben deutlich macht.

Ich kann heute noch kein Ergebnis vorlegen. Die Kommission hat sich bereits einige Male getroffen. Ich denke, dass Anfang nächsten Jahres ein mit allen bayerischen Bistümern abgestimmtes Ergebnis veröffentlicht und vorgestellt werden kann.

Klar ist, dass die katholische Kirche sich künftig auf eine andere wirkungsvolle Weise in der Beratung von Frauen bei Schwangerschaften und in Schwangerschaftskonflikten engagieren wird. Sie wird es nicht mehr im Rahmen des Systems der staatlich anerkannten Schwangerenkonfliktberatung tun.

Ich erinnere daran, dass die zunächst getroffene und über einen längeren Zeitraum auch in allen Bistümern praktizierte Entscheidung, in diesem System mitzuwirken, niemals eine Zustimmung zu dem Gesetz bedeutet hat, das das Lebensrecht ungeborener Kinder nicht konsequent schützt. Obgleich die Kirche immer erklärt hat, sie werde sich mit diesem Gesetz nicht abfinden, hat sie doch im Rahmen des Gesetzes mitgewirkt, um das Lebensrecht ungeborener Kinder so gut wie möglich zu schützen.

Maßgeblich für dieses kirchliche Engagement war auch die Absicht, das gefährdete Bewusstsein aufrecht zu erhalten, dass jede Abtreibung ein Unrecht ist, wie es die höchstrichterliche Rechtsprechung ausdrücklich formuliert hat. Es hat nicht den Anschein, dass das Engagement der Kirche innerhalb des Systems dem Rechtsbewusstsein gedient hat. Das Rechtsbewusstsein wurde nicht gestärkt. Bis in die Formulierungen von Nachrichten und Berichten hinein, wird Abtreibung im Gegenteil als ein Recht deklariert.

Nicht zuletzt war mit dem kirchlichen Engagement auch das Ziel verbunden, die Zahl der massenhaften Abtreibungen in Deutschland spürbar zu senken. Auch diese Erwartung hat sich nicht erfüllt.

Wenn die Bischöfe jetzt der Weisung des Papstes folgen, geschieht das nicht in "blindem Gehorsam", wie ein in Umlauf gesetztes Wort unterstellt. Im Gegenteil: Das Ringen um den richtigen Weg, das in der Öffentlichkeit unübersehbar deutlich geworden ist, hat gezeigt, dass es falsch ist, den Bischöfen in Deutschland "blinden Gehorsam" vorzuwerfen, es sei denn, man wollte jeden Gehorsam an sich schon als blind etikettieren.

Die meisten Irritationen auf weltkirchlicher Ebene über die Mitwirkung der Kirche im staatlichen System der Schwangerenkonfliktberatung hat das "Sowohl-als-auch" des Beratungskonzeptes ausgelöst. Was zunächst unstrittig zum Schutz des ungeborenen Lebens gedacht und eingesetzt ist, nämlich die Beratung zum Leben, dient durch die Ausstellung einer Beratungsbescheinigung zugleich auch als Weg zu einer straffreien Abtreibung. Das ist eine Irritation, die die Bischöfe nicht ausräumen konnten, die unsere klare Haltung in der Beratung beeinträchtigt und ständig in ein Dilemma gebracht hat. Dies hat letztlich zu der Frage geführt, ob man sich derart auf den Beratungsschein fixieren müsse, ob eine Beratung von Frauen in Schwangerschaftskonflikten nur noch innerhalb des Systems denkbar sei.

Mir scheint die Festlegung, Beratung sei nur im staatlichen System sinnvoll, voreilig. Die weitere Entwicklung ist zur Zeit noch gar nicht überschaubar und langfristig noch gar nicht einzuschätzen.

Wir müssen nach vom denken und den Versuch wagen, in unserer Gesellschaft bei der Beratung von Frauen, auch bei der Schwangeren- und Schwangerenkonfliktberatung, etwas Neues entwickeln. Dieses Neue braucht Freiräume und sollte nicht von vornherein durch die Vorgaben eines Systems festgelegt und eingeengt werden. Es geht dabei generell um Fürsorge für Frauen, vor allem für schwangere Frauen, ohne dass dazu das System staatlich anerkannter Konfliktberatung in Anspruch genommen werden müsste. Das kirchliche Angebot der Fürsorge und Beratung ist die klare Alternative zur Abtreibung. Das wird jetzt deutlicher werden.

Es wäre geradezu absurd, wenn es so etwas wie eine gesellschaftliche Festlegung geben würde, wonach Frauen nur noch im Rahmen gesetzlicher Vorschriften beraten und unterstützt und das Lebensrecht ungeborener Kinder nur noch systemkonform auf eine einzig zulässige Weise geschützt werden dürfe. Ich bin zuversichtlich, dass aus der gegenwärtigen Krise etwas Neues und Positives entstehen kann, auch dass wir eine größere Freiheit gewonnen haben, die es uns ermöglicht, unsere Kritik am Gesetz und an bestimmten gesellschaftlichen Tendenzen noch deutlicher und auch glaubwürdiger als bisher zum Ausdruck bringen. Wir waren und bleiben die entschiedensten Anwälte des Lebensrechtes der ungeborenen Kinder und der Solidarität mit ihren Müttern.

Ich möchte in diesem Zusammenhang auch ein Wort zu der Gründung des Vereins Donum Vitae sagen, der sich als ein bürgerlicher Verein von Katholiken versteht und zugleich auch für alle Personen offen sein will, die seine Ziele unterstützen und fördern wollen. Es ist das erklärte Ziel des Vereins, der sich auch auf bayerischer Ebene konstituiert hat, für den Schutz des ungeborenen Lebens einzutreten und Frauen in Schwangerschaftskonflikten zu unterstützen.

Die Mitglieder des Vereins wollen anders als die Bischöfe die Beratung schwangerer Frauen im Rahmen des Systems der staatlichen Schwangerenkonfliktberatung fortsetzen. Die persönliche Ermessensentscheidung und die grundlegende Motivation der Mitglieder des Vereins ist zu respektieren. Ich möchte aber ebenso deutlich sagen, dass der Verein nicht nach der Weisung der Bischöfe und auch nicht in ihrem Auftrag handelt.

Zur Beschreibung der gegenwärtigen Lage gehört auch die Verwischung der Begriffe und die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit, in die öffentliche Meinung Klarheit zu bringen.

Viele Zeitgenossen unterscheiden nicht zwischen Straffreiheit und Unrecht. Für sie gilt: Was nicht bestraft wird, darf man tun.

In ähnlicher Weise betrachten viele die Bescheinigung einer erfolgten Beratung als Berechtigung einer Abtreibung. Sie verkennen, dass mit der Bescheinigung Unrecht niemals gerechtfertigt werden kann.

Man wirft uns vor, durch den Ausstieg aus der gesetzlichen Beratung würden wir die Frauen im Stich lassen. Das tun wir gerade nicht; denn wir wollen weiter beraten, wenn auch nicht im Rahmen des Gesetzes.>

Ich höre diesen Vorwurf auch in dem Sinn, dass wir durch den Ausstieg aus der gesetzlichen Beratung die Verantwortung für die Abtreibung nicht mehr mittragen. Das haben wir nie getan. Denn man kann einer Frau nicht dadurch helfen, dass man ihr Kind tötet.

Diese Beispiele zeigen, wie schwer es ist, komplexe Sachverhalte den heutigen Menschen deutlich zu machen.

In dieser Situation möchte ich ein besonderes Wort einlegen für die seit mehr als 25 Jahren in ganz Bayerns segensreich wirkende "Aktion für das Leben". Die Aktion ist an keine Partei und keine Konfession gebunden. Aber sie hat uneigennützig und konkret mit Unterstützung großherziger Spender seit mehr als einem Vierteljahrhundert zahllose Hilfen für Kinder und Mütter geleistet.

Allein in diesem Jahr wurden unbürokratisch und direkt in vielen Einzelhilfen mehr als 600.000 DM vermittelt. Die Aktion hat immer den direkten Weg zu den schwangeren Frauen und ihren Familien gefunden, die wirklich Hilfe brauchen. Sie hat Lebenshilfe geleistet, wo Lebenshilfe am dringendsten ist. In der Auseinandersetzung und auch im Appell an die Spender darf diese gute Institution, die sich bewährt hat, nicht beeinträchtigt werden. Erst dieser Tage hat mir ihr Geschäftsführer berichtet, dass in diesem Jahr noch keine Frau, die von einer Beratungsstelle geschickt worden war, ohne Hilfe geblieben ist.

Wir sind entschlossen, Frauen in Notlagen auch weiterhin zu helfen. Um ein deutliches Zeichen unserer bleibenden Verpflichtung zu setzen, nah am Menschen zu sein, Nächstenliebe zu üben, will die Erzdiözese zur Jahrhundert- und Jahrtausendwende zusammen mit dem Sozialdienst katholischer Frauen ein konkretes Projekt anpacken.

Wir haben in Schleißheim bei München aus Anlass unseres Domjubiläums schon das Haus St. Benno für kranke und pflegebedürftige obdachlose Männer eingerichtet. Das Haus ist voll angenommen worden. Jetzt wollen wir auch für Frauen, die ohne Obdach auf der Straße leben, eine bereits bestehende kleine Einrichtung in München erheblich ausbauen und erweitem. Unter den obdachlosen Frauen sind zunehmend auch jüngere Frauen, die mit ihrer Lebensperspektive gescheitert und vom Leben gezeichnet sind. Es sind Frauen, die Hilfe brauchen, weil sie an Leib und Seele krank sind. Diesen Frauen wollen wir in der bayerischen Landeshauptstadt einen Lebensplatz geben, einen Ort zum Leben, eine Heimat.

Die vom Sozialdienst katholischer Frauen geführte kleine Einrichtung in München besteht seit mehr als zehn Jahren. Dort gibt es elf Plätze für obdachlose Frauen. Die Plätze reichen nicht aus, weil die Zahl der obdachlosen Frauen mit einer vielfältigen psychosozialen und physischen Problemlage gestiegen ist. Im Stadtteil Obermenzing wird daher ein neues größeres Haus eingerichtet, dort können dann mehr als 20 Frauen wohnen und auch Pflegeplätze können angeboten werden. Dazu wird die Erzdiözese aus Kirchensteuermitteln dem Sozialdienst katholischer Frauen 4 Millionen DM zur Verfügung stellen.

Auch das neue Haus wird den Namen der schon bestehenden Einrichtung weiterführen und den gut biblischen Namen "Haus Bethanien" tragen.

Die vielfältigen Hilfen, die wir außerdem kirchlicherseits Frauen anbieten, können Sie der beigelegten Übersicht entnehmen.

Eine grundsätzliche Bemerkung zur Komplexität unserer Lebensverhältnisse.

Wir leben stärker als frühere Generationen in einer vom Pluralismus geprägten Gesellschaft. Selbstverständlich gehört die Vielfalt zum menschlichen Leben. Aber wir brauchen auch Gemeinsamkeiten. Viele dieser geistigen Gemeinsamkeiten sind nicht mehr selbstverständlich oder gar zerbrochen. Die Frage erhebt sich, wie die Vielfalt des individuellen Lebens davor bewahrt werden kann, in die Nähe von Beliebigkeit und Willkür zu geraten.

Ein weiteres Kennzeichen unserer Gesellschaft ist das, was man mit Säkularismus bezeichnet. Damit ist letztlich die Auflösung des Zusammenhanges von Gott und Welt, Gott und Mensch gemeint. Wie sollen dann aber noch die Prinzipien der Moral und ethischen Werte begründet werden? Dietrich Bonhoeffer: "Der Ursprung der christlichen Ethik ist nicht die Wirklichkeit des eigenen Ichs, nicht die Wirklichkeit der Welt, aber auch nicht die Wirklichkeit der Normen und Werte, sondern die Wirklichkeit Gottes". Zum Menschsein des Menschen gehört die Verwiesenheit auf Transzendenz.

Gräfin Dönhoff: "Die Gesellschaft braucht den Glauben und ethische Werte, sonst zerbricht sie."

Im Dienst dieser Aufgabe steht die Kirche an der vordersten Front. Ich wäre froh, wir hätten mehr Mitstreiter. Geht es doch um den Menschen und seine Zukunft.

In zwei Wochen beginnt ein neues Jahrhundert. Ich werde immer wieder gefragt: Wie geht es mit der Kirche weiter? Ich schaue mit Zuversicht in die Zukunft, nicht weil ich mich auf Prognosen oder auf unsere Fähigkeiten, die sich manchmal auch als Unfähigkeiten erweisen, verlasse, sondern weil ich an Jesus Christus glaube, der die Kirche gestiftet und ihr seinen Beistand verheißen hat bis zur Vollendung der Welt. Wenn Sie die 2000-jährige Geschichte der Kirche betrachten, sehen Sie, dass dieser Glaube nicht auf Sand gebaut ist.

Kardinal Friedrich Wetter, Presseclub, 16.12.1999

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Last update: 06. Februar 2001 14:14